"Die Essensvernichter"
"Warum die Hälfte aller Lebensmittel im Müll landet und wer dafür verantwortlich ist" Stefan Kreutzberger / Valentin Thurn
Die Vorstellung ist ungeheuerlich: 10 bis 20 Millionen Tonnen essbarer Lebensmittel wandern in Deutschland Jahr für Jahr in die Tonne, weltweit landet ein Drittel der Lebensmittelproduktion auf dem Müll, das sind sage und schreibe 1,3 Milliarden Tonnen. 15 000 Tonnen Lebensmittel – Milchprodukte, Obst und Gemüse, Aufschnitt, Brot – holt sich die Berliner Tafel jährlich bei den Supermärkten ab. 10 Prozent des deutschen Haushaltsmülls besteht aus originalverpackten Lebensmitteln.
Essen ist Leben
Die schockierenden Zahlen und Fakten über die weltweite Essensvernichtung wurden im Oktober 2010 bereits eindrücklich illustriert: "Frisch auf den Müll" hieß die TV-Dokumentation anlässlich der ARD-Themenwoche "Essen ist Leben". Erst nach diesem Film hat Bundeslandwirtschaftsministerin Aigner eine bundesweite Studie über die immense Essensvernichtung in Auftrag gegeben – an eine Wissenschaftlerin in Österreich, wo es seit langem Untersuchungen darüber gibt. In diesem Zusammenhang schildern die Autoren auch die Mühsal der Recherche, weil hierzulande kein Supermarkt Zahlen nennen oder ehrlich Auskunft geben wollte.
Nachhaltige Haushaltsführung
Unsere Großmütter, die Krieg, Nachkriegszeit und Hunger noch erlebt haben, würden sagen: Es geht euch zu gut. Sie haben recht. Früher wurden aus altem Brot Knödel oder Brotsuppen zubereitet, der braune Fleck am Apfel wurde großzügig rausgeschnitten, nicht mehr so feste Tomaten landeten als Sugo auf Spaghetti, verwelkte Salatblätter wurden abgezupft, statt gleich den ganze Kopf zu entsorgen. Diese Beispiele nachhaltiger Haushaltsführung lassen sich beliebig fortsetzen, auch daran erinnern die Autoren.
Verschwendung in der Überflussgesellschaft
Wir sind gewohnt, im Überfluss zu leben, im Supermarkt jedes Produkt zu jeder Zeit zu bekommen: frisches Brot, Gemüse und Früchte aus aller Welt, Erdbeeren und Spargel rund ums Jahr, Joghurt natur, mit Früchten, laktosefrei, fettarm, probiotisch, griechisch oder besonders cremig. Von den 100 Sorten, die uns die Lebensmittelindustrie anbietet, würden wir vermutlich noch nicht mal die Hälfte vermissen. Wir würden sicher auch herzförmige Kartoffeln, unpolierte Äpfel und Karotten mit zwei Wurzeln kaufen – im Supermarkt nicht zu finden. Oder krumme grüne Gurken. Die EU hat entsprechende Normen zwar wieder gestrichen, aber die gerade gewachsenen Gurken lassen sich besser verpacken, also gibt es weiterhin keine krummen im Laden. Allenfalls im Bioladen, der regionales Gemüse anbietet und damit auch dem Klimawandel entgegenwirkt, nach dem Motto: Wer weiter denkt, kauft näher ein.
Ernährung und Klimawandel
Die immense Nahrungsmittelverschwendung belastet auch unser Klima enorm – erst CO2-intensiv anbauen, ernten, transportieren, um das Zeug dann ebenfalls CO2-intensiv wieder zu vernichten. Was für ein Irrwitz! Thurn und Kreutzberger beleuchten noch mehr ver-rückte Zusammenhänge: Biosprit und leere Teller, Sinn und Unsinn von Mindesthaltbarkeitsdaten, Hunger in der Welt, obwohl Nahrungsmittel im Überfluss vorhanden sind, Verpackungswahn, Fleischkonsum, Getreide für Tierfutter statt für Menschennahrung, Verkaufspsychologie im Supermarkt und Agrarkolonialismus in unterentwickelten Ländern.
Der Verbraucher zahlt die Zeche
Brot und Brötchen müssen jederzeit frisch verfügbar sein, bis spät am Abend, so wollen es die Verbraucher, sagt der Handel. Weshalb in Deutschland jährlich 500 000 Tonnen Brot vernichtet werden. Aber wollen wir Verbraucher diese Verschwendung wirklich oder gehen wir nur einer profitorientierten Lebensmittelmafia auf den Leim, die uns suggeriert, dass wir tagtäglich die Auswahl aus 1000 verschiedenen Produkten brauchen, um satt und zufrieden zu sein? Die Überproduktion ist einkalkuliert – jeder von uns zahlt die Verschwendung mit.
Fakten und Begegnungen
Die Autoren liefern nicht nur eine (manchmal durchaus verwirrende) Fülle an Fakten, Zahlen und Informationen, sie schildern auch beeindruckende Begegnungen: Da sind beispielsweise die "Mülltaucher", Politaktivisten, die in den Müllcontainern der Supermärkte haufenweise unversehrte Lebensmittel finden. Da ist der Bäckermeister, der altes Brot nicht mehr wegwirft, sondern zu Heizpellets verarbeitet und da ist der Bauer, der sich noch freut, wenn ganze Familien zur Kartoffelnachlese auf seinen Acker kommen, was früher ganz selbstverständlich war. Kämen sie nicht, würde fast die Hälfte seiner Ernte vernichtet werden, weil die Kartoffeln nicht den "Schönheits"normen unserer Konsumkultur entsprechen.
Keine Privatsache
Die Geschichte des Überflusses ist noch jung, das verschwenderische Verhalten umkehrbar, wenn Verbraucher sich auf ihre Macht besinnen, Nahrungsmittel wieder wertschätzen, genießen, anders einkaufen als bisher und wieder selber kochen, statt Fast Food zu bevorzugen. Das Buch hilft, den Irrsinn der Essensvernichtung zu erkennen, und ist Teil einer Kampagne, zu der auch der Kinofilm "Taste the waste" (ab 8. September 2011 im Kino) und Internetportale gehören. Essen, so begreift man, ist keine Privatsache mehr. (Christiane Schwalbe)
Der Kinofilm "Taste the Waste" Die Website "Die Essensvernichter"
"Die Essensvernichter" - "Warum die Hälfte aller Lebensmittel im Müll landet und wer dafür verantwortlich ist" Stefan Kreutzberger / Valentin Thurn Verlag Kiepenheuer & Witsch, August 2011, 319 Seiten, 16.99 Euro
|