"Vom Verzehr wird abgeraten"
Wie uns die Industrie mit Gesundheitsnahrung krank macht.
Hans-Ulrich Grimm
Angesichts zunehmender ernährungsbedingter Krankheiten hat uns der Gesundheitswahn gepackt. Ein buchstäblich gefundenes Fressen für Nahrungsmittelproduzenten, die uns immer mehr "Gesundheitsnahrung" anbieten – auf gut englisch: Functional Food. Statt weniger Fast Food zu essen und uns häufiger zu bewegen, greifen wir zu Produkten, die aus dem Chemielabor kommen.
 Zwischen Nahrung und Medizin
Aber was ist gesund und wer bestimmt das? Zunehmend nimmt uns das die Nahrungsmittelindustrie ab, die gerade dabei ist, einen ganz neuen Produktionszweig zu erfinden – zwischen Nahrung und Medizin, wobei die Grenzen fließend sind. Motto: Prävention mit Gesundheitsnahrung.
Gegen das schlechte Gewissen
Wer sich also ohnehin nicht besonders natürlich, weil von Fertigpizza, Tütensuppen und Currywurst ernährt, kann auf ein wachsendes Sortiment von Produkten zurückgreifen, die mit zusätzlichen Nährstoffen angereichert sind und das schlechte Gewissen beruhigen. Das lassen sich ihre Produzenten teuer bezahlen. Bekannte Beispiele sind probiotische Joghurts, die den Darm in Schwung bringen sollen, oder cholesterinsenkende Margarinen.
Provokante These
Ob diese Nahrungsmittel allerdings der Gesundheit nützen, ist nicht belegt. Im Gegenteil: Hans-Ulrich Grimm, seit Jahren kritischer Beobachter der Nahrungsmittelindustrie, stellt die provokante These auf: "Gesunde Ernährung kann das Leben verkürzen. Die neue, angeblich gesunde Nahrung hat Risiken und Nebenwirkungen. Und es sind viele betroffen. Denn viele Menschen folgen den Versprechungen." Die uns weismachen, dass diese Produkte für mehr Vitalität und Power sorgen, uns ein längeres und gesünderes Leben bescheren.
Aufgepäppelt mit Zusatzstoffen
Functional Food – das sind Produkte, die mit Substanzen angereichert werden, die medizinisch wirken sollen – Vitamine und Mineralstoffe, aber auch Pflanzensterole, die alles andere als gefahrlos sind. Es geht dem Autor dabei nicht um naturbelassene Nahrungsmittel, sondern um die extrem verarbeiteten: "Je mehr die Naturkost sich vom Acker entfernt, je mehr sie industriell verabeitet wird, desto mehr schwinden ihre gesundheitlichen Vorzüge." Eigentlich weiß man das, unsere Mütter und Großmütter brauchten nur einen Bruchteil dessen, was heutzutage im Supermarkt steht, waren nicht unglücklich und weniger krank.
Ernährungsführerschein
Grimm beleuchtet aber noch mehr: Ernährungsberater, Bio-Produkte, die Bevorzugung fettarmer Lebensmittel und die Verquickung von Industrielobby und Nahrungsmittelkontrollen sind ihm ebenfalls ein Dorn im Auge. Der Fokus unserer Ernährung wird verschoben, die Natürlichkeit von Essen zugunsten bedrohlicher Szenarios in den Hintergrund gedrängt. Zur Nahrungsaufnahme braucht man heutzutage einen Ernährungsführerschein, den Kinder in der Grundschule erwerben können. Was für ein Armutszeugnis für die Eltern, die doch eigentlich nach sinnvollen, alten Ernährungsregeln kochen und die Vorzüge von "echtem" Essen bewahren könnten, das ruhig mal fett oder süß sein darf.
Macht der Verbraucher
Grimm ist weder Gesundheitsapostel noch Kostverächter. Er will in seinem faktenreichen und verständlichen Report die Dimensionen wieder gerade rücken, die durch die Unmenge "funktioneller" Lebensmittel aus dem Lot geraten sind, und uns unsere Rolle als Verbraucher klar machen. Wenn wir nicht kaufen, was uns die Industrie aufschwatzen will, dann können wir den künstlich aufgeblasenen Markt entscheidend beeinflussen und - im doppelten Wortsinn - vielleicht sogar klein kriegen.
(Christiane Schwalbe)
"Vom Verzehr wird abgeraten" - Wie uns die Industrie mit Gesundheitsnahrung krank macht.
Hans-Ulrich Grimm, Verlag Droemer-Knaur, März 2012, 320 Seiten, 18 Euro
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