"Wurst und Wahn – ein Geständnis" Jakob Hein
Die Zeiten ändern sich, und lieb gewonnene Gewohnheiten gehören plötzlich der Vergangenheit an. Zum Beispiel der Gänsebraten, den Jakob Heins Ich-Erzähler angesichts vegetarischer Empörung der Kollegen bei der Weihnachtsfeier im Restaurant nur noch mühsam herunter würgt. Sein Versprechen: "Im neuen Jahr esse ich auch kein Fleisch mehr, aber ich dachte, heute könnte ich noch einmal sündigen."
Traum vom Grillteller
Ein folgenschwerer Vorsatz, denn aus der Notlüge wird angesichts sozialer Kontrolle tatsächlich Realität. Fleisch und Produkte jeder Art aus dem Stoff toter Tiere sind verboten, der Neu-Vegetarier steigt tief ein in die Gemüsewelten, lernt das Suchtpotenzial von Fleisch und die nun drohenden Entzugserscheinungen qualvoll genau kennen. Er träumt von Schlachtplatten und Grilltellern, versucht Erinnerungen an Döner, Salami, Bratwurst, Buletten und Schnitzel verzweifelt zu verdrängen.
Vegetarische Verelendung
Denn: "Es gab im ganzen Viertel überhaupt kein Fleisch mehr … im Supermarkt richteten sie einen abgetrennten Bereich für den Fleischverkauf ein, den nur Erwachsene betreten durften … Der Anblick von toten Tieren darf Minderjährigen und Vegetariern nicht mehr zugemutet werden …" Mit dem Verzicht gehen körperlicher Verfall, Abmagerung, Potenzverlust und Trennung einher, das Leben wird öde, grau und leer, dem generellen Fleischverzicht folgen Depression und physische Verelendung.
Schicksalhafte Begegnungen
Ein Kommissar hört sich das ganze Elend geduldig an, denn ins bitterböse Spiel um fleischloses Leben in der neuen Vegetarierwelt mischen sich schicksalhaft zwei Personen ein, die den Anfänger im Vegetarismus erst verständnisvoll begleiten und später tückisch verführen werden: Tom Tofu, der in seinem Blog für Vegetarier wichtige Tipps gibt, und bruehwuerfel69, der ihm die Notwendigkeit und Vorzüge des regelmäßigen Fleischverzehrs wieder schmackhaft zu machen versucht. Das endet unverhofft und sehr dramatisch.
Zwischen Gier und reiner Lehre
Zwischen seinen drei Protagonisten spinnt Jakob Hein ein satirisches Netz aus Klischees, Vorurteilen und Modetrends, er mokiert sich über missionarische Ernährungsapostel, neurotische Gutmenschen, Dogmatiker, Glaubensbekenntnisse, die reine Lehre und die animalische Gier nach Fleisch. Das ist abstrus, urkomisch, bitterböse und bringt es auf den Punkt: Zwang – in welcher Richtung auch immer – tut nicht gut. Weder an Dogmen noch an Gedankenlosigkeit sollte der Spaß am Leben scheitern - mit oder ohne Fleisch. (Christiane Schwalbe)
"Wurst und Wahn – ein Geständnis" - Jakob Hein Galiani Berlin, 101 Seiten, August 2011, 14.99 Euro
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