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"Urban Gardening"

Über die Rückkehr der Gärten in die Stadt
Christa Müller (Hg.)

Man nehme: Eine Kartoffel, einen Reissack, 15 Liter Komposterde, 15 Liter Gartenspezialerde und Wasser. Man braucht einen Balkon, eine Terrasse, einen Garten oder irgendeinen vergleichbaren Platz unter freiem Himmel. Wer eine Kartofffel pflanzt, kann mindestens 1 Kilogramm Kartoffeln ernten.

Urban Gardening, Oekom Verlag, Christa MüllerKartoffeln auf dem Balkon

"Kartoffelacker" auf dem Balkon? Die Mitarbeiter der Prinzessinnengärten in Berlin zeigen, wie einfach es sein kann, das Grün in die Stadt zurückzuholen, ohne Schrebergartenordnung oder Kleingartenverein. Ob Kürbisse, Melonen oder Zucchini, Kräuter, Salat oder Tomaten – wie's auf kleinstem Raum geht, kann man im Internet nachlesen.

Tretrapacks und Reissäcke

Die Prinzessinnengärten und ihr erfolgreicher Versuch auf dem Kreuzberger Moritzplatz, Gemüse und Kräuter in Bäckerkisten, Reissäcken und aufgeschlitzten Tetrapacks anzubauen, ist ein Paradebeispiel für den neuen Trend "Urban Gardening". Im Grau der Straßenschluchten sollen immer mehr grüne Inseln entstehen, in denen die Selbstversorgung mit Gemüse zugleich soziale Milieus verknüpft und neue Nachbarschaften ermöglicht. Man will sich nicht zurückziehen, sondern lebendiger Teil der Stadt sein und notfalls umziehen können: Säcke und Kisten sind mobil.

USA und Kuba

Die Anfänge kommen aus den USA: "Seit bald 40 Jahren werden in den Innenstädten von Philadelphia, Detroit, Boston, Chicago oder New York Community Gardens betrieben ... Urban Agriculture meint den Gemüseanbau zum Selbstverzehr." Aber weltweit gilt Kuba als Vorreiter der urbanen Landwirtschaft "Agricultura urbana". Hier wurde aus Not eine Tugend gemacht: Als in den 1990er Jahren der sozialistische (Wirtschafts)block zusammenbrach, lebten die Kubaner, notgedrungen unterstützt durch die Regierung, von Selbstversorgung in den Städten. Angebaut wurde in Plastiktüten und Joghurtbechern, auf Dächern und Balkonen. Und es funktionierte.

Gärtnern als politische Aktion

Urban Gardening, das belegt dieses Buch beeindruckend, ist im Sinne des Wortes eine Bewegung, die getragen wird von den "Enkeln der 68er Generation". Christa Müller spürt die Motive auf, die diese Bewegung stärker werden und Gärten wachsen lassen, wo immer Brachflächen oder Hinterhöfe es erlauben. "Gemüseanbau ist auch Ausgangspunkt politischen Handelns für die, die den ungehinderten Zugriff auf die Ressourcen der Welt in Frage stellen" ... und eigenes, lokales Gemüse "klimaneutral und in bester Qualität" verspeisen.

Nachhaltigkeit als Motiv

Es geht den urbanen Gärtnern um Nachhaltigkeit, die beim eigenen Konsum beginnt, und um einen neuen Blick auf die Natur, der den Städtern abhanden gekommen ist. Das ist kein kurzlebiger Romantizismus, der da wächst und gedeiht. Es ist eine Umkehr des persönlichen Konsumverhaltens, das nach "urbaner Lebensqualität und postmateriellen Lebensstilen" sucht, um Genuss und ökologisches Bewusstsein miteinander zu verbinden. "Unspektakuläre Mikro-Erlebnisse wie die Bekanntschaft mit lokal gepressten Apfelsäften oder der gemeinsame Anbau von bunten, alten Kartoffelsorten machen die Gärten zugleich zum eminent politischen Ort ... Nicht zuletzt stößt man beim Säen, Ernten und Tafeln unweigerlich auf Fragen wie: Woher kommt das Essen und wie wird es produziert?"

Vernetzungen

21 Autorinnen und Autoren beschreiben und analysieren die Geschichte und Entwicklung des "Urban Gardening". Darüber hinaus bewerten sie auch seinen Einfluss auf Stadtplanung und Städtebau und seine Bedeutung als neue soziale und ökologische Bewegung, die sich in Deutschland immer mehr durchsetzt.
Eine Fülle von Webadressen und Literaturhinweisen dokumentiert den neuen Gartenboom, der ganz praktisch sozusagen "von unten" entsteht.
Schade nur, dass die inhaltlich spannenden Analysen zum Teil in einem schwer lesbaren Wissenschaftsjargon verfasst sind, denn diese Bewegung ist auf Verständlichkeit angewiesen, weil zum Nachahmen gedacht.
(Christiane Schwalbe)

"Urban Gardening" - Über die Rückkehr der Gärten in die Stadt - Christa Müller (Hg.)
Oekom Verlag 2011, 352 Seiten, 19,95 Euro